Jörg Nath


 „In Augenkontakt mit den Dingen sein, für die ich Wörter zu sammeln versuche.“

                                                                                                        Christoph Wilhelm Aigner

 

"Die Krähe

fürchtet die Krähe nicht

aber der Mensch

ist des Menschen

bangste Begegnung."

                                               Hilde Domin

 

 

                                                                       „Wer mein Schweigen nicht annimmt, dem habe ich nichts zu sagen.“

                                                                                                                                                                      Wolfgang Bächler

 

„Wir sehen fast glücklich aus in der Sonne, während wir verbluten aus

 Wunden, von denen wir nicht wissen.“

Tomas Tranströmer

 

 

                                                    „Ich trete in dem Moment ans Licht in dem ich mich selbst als Frage definiere“.

                                                                                                                                                                            Haris Vlavianos

 

"Nicht, daß das Licht entlegener Galaxien nicht zu uns gelangte! Doch wird es uns niemals erreichen, nie (be)rühren:

eine Allegorie unserer Einsamkeit."

                                                                      George Steiner

 

Störungsfrei (31.01.2025)

 

Mit dem Betreten des Ufers

hat sich der Fluss meines Blutes bereits

mit den Bewegungen des Wassers synchronisiert.

 

Am gegenüberliegenden Ufer

betont die Sonne Bäume und Waldboden.

Wo Braun und Ocker leuchten sehe ich nichts als Wärme.

 

In meinem Rücken spielt

anstelle der Stadt ein Buntspecht seine Melodie.

Zwei Schwäne werfen gekonnt

das Licht mit ihrem Gefieder in die Welt und

vornehm lautlos zieht der Silberreiher durch das Bild.

 

Beste Sendezeit.

Der Empfang – störungsfrei!

 

 

 

 

 

Frühes Wiedersehen (31.01.2025)

 

Trompeten bremsen mein Rad

öffnen die Dopaminschleusen

und die weiten Schwingen dreier Bläser

beleben das einsame Blau.

 

Sonntag Mitte Januar

und ich schwanke

zwischen Trauer und Freude

über das frühe Wiedersehen.

 

Was mögen die Kraniche denken

im Sog ihrer Instinkte?

 

 

 

 

 

Gutes Omen? (31.01.2025)

 

Ich schlendere durch den Herzschlag Stadt

vorsätzlich entlang ihrer blauen Adern –

in meinem Augenwinkel ein Blitz.

Ein geflügelter Aquamarin zeichnet

pfeilschnell das Ufer des Flusses nach.

Eisvogel – siehst du eine andere Zukunft?

Hell sind die nächsten Schritte – hell und blau.

 

 

 

 

 

Verdichtet (27.01.2025)

 

Die Haut hat sich verdichtet

unter den Spuren

vorübergegangener Leben.

 

Wie Jahresringe liegen sie

schwer auf dem Kern,

bei dem Versuch zu atmen.

 

Sie alle sahen ein Gesicht,

doch widersprach der Spiegel

stets ihren Augen.

 

Raureif liegt auf der Haut

über Zeichen von Rinde –

gehen einfach nur gehen.

 

 

 

 

 

Türme in Grau (27.01.2025)

 

Schwer drückt der Nebel

auf die wintermüde Stadt

verbündet sich mit der Dunkelheit

auf der Suche nach Nahrung.

 

Sein engmaschiges Gewebe

aus Kondensat verschluckt

die Gespräche der Stadt –

Schritte sind Erinnerungen.

 

Die verlassenen Lichter

der Straßen stemmen sich

gegen die nasskalte Übermacht.

Unbeweglich hängt sie

an den stolzen Türmen.

 

Doch der Schein trügt –

mit unzähligen Armen greift sie

nach jeder Bewegung,

stellt die Resilienz der Knochen

auf die Probe.

 

 

 

 

 

 

Lyrische Nachtschicht (13.01.2025)

 

Jemand hat die Decke und das Kissen mit Steinen gefüllt.

Die Matratze tritt aus wie ein bockiges Pferd und in der

lauten Dunkelheit der Stille ist kein Platz für müde Köpfe.

 

Das Ächzen der Jahresringe wird lauter und aus dem Hahn

der Vergangenheit tropfen permanent ungeschminkte

Erinnerungen zerspringen schallend auf meiner Stirn.

 

Der Schlaf hat die Beine in die Hand genommen – heute

sind es zwei Erbsen für die Prinzessin – und ein Gedicht

schreibt sich unbarmherzig durch die Nacht.

 

 

 

 

 

Aus dem Nichts (09.01.2025)

 

Durch die Gitterstäbe der Zeit

schaue ich hinaus in die Nacht

folge der Wahrheit seiner Tiefe.

 

Schlafe wohl mein kleiner Engel,

der du nie geboren wurdest und

erträume dir eine grenzenlose Welt.

Und schlafe wohl mein schöner Engel,

der du wartest, mir die Brust zu öffnen.

 

Die nackten Gefühle erheben sich,

gehen zu Bett und lassen mich zurück

in der Weite eines tonlosen Zimmers.

 

 

 

 

 

Flüchtige Spuren (08.01.2025)

 

Die Tinte meiner Geschichte sickert in die

weißen Zeilen, hinterlässt ihre Spuren wie

Schritte auf einem winterlichen Waldweg.

 

Manchmal ist das Papier zu schnell gesättigt

und die Worte verschwimmen wie Schnee

in der Sonne. Dann tauche ich meine Hände

 

in die dunkelblaue Oberfläche, taste auf dem

Grund nach wohlgeformten Brocken und bitte

das Papier um Vergebung. Doch Geschichte ist

 

unbarmherzig festgeschrieben, unwiderlegbar

aber auch flüchtig wie Spuren im Schnee. So

streiche ich die Feder wie Grashalme im Wind

 

über die zitternden Seiten – im Wettlauf mit der Sonne.

 

 

 

 

 

Die Summe der Momente (04.1.2025)

 

Ich bleibe stehen in meiner Unwissenheit

in meiner Stille, drehe mich um und blicke

in die Augen eines Moments. Einer unter

vielen und doch in seiner Bedeutsamkeit

wie ein Herzschlag. Er konzentriert die

Farben der Gegenwart auf ein kleines Bild

und zum Beweis seiner Richtigkeit stehen

vertraute Gesichter über ihm. Einer von

den Momenten, die sich zeigen, wenn

das Leben nicht hinterfragt wird, die diesen

Organismus aus Stahl, Beton und Ziegel

ausmachen. Ich gehe weiter, dort, wo

der Puls der Stadt kaum noch spürbar ist,

nehme sie an all die Momente, lege

meinen Hut neben ihre Bilder und mache

mir so diesen Organismus zu meinem Haus.

 

 

 

 

 

Die Unvermeidbarkeit und ihre Schönheit (02.01.2025)

 

Vor dem Fenster schaut die dünne Sichel des Mondes

wie ein leuchtender Riss in der Unendlichkeit aus dem

müder werdenden Blau auf das Unvermeidbare.

Die nackten schwarzen Arme einer Kastanie greifen

nach dem unbeirrbaren Wanderer. Dunkle Wolkenfetzen

ziehen vorbei, wissend, unbeeindruckt von der Schönheit

seiner Botschaft. Während der Betrachtung seines Wirkens

hat das Blau die Augen geschlossen und die Kastanie

die Sichel wieder freigegeben, offenbart –

den gnadenlos stummen Klang der Sekunden.

 

 

 

 

 

Lass uns der Stille Raum geben (01.01.2025)

 

Keine Zeit für Stille.

Ich möchte meine Gedanken

in deinem Schoß zur Ruhe betten,

doch es ist keine Zeit für Stille.

Das Leben verdichtet sich

auf die Größe einer Briefmarke,

erreicht die entlegensten Orte.

Kein Platz für Stille.

Nimmst du mir die Welt

von meinen müden Schultern?

Ich biete dir dafür

lautlose Berührungen –

die Poesie der Fingerspitzen.

Lass uns der Stille Raum geben.

Die Worte geben Stille.

Nimm sie an und spüre –

ihren Atem auf deiner Haut.